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Eine Jugend in Deutschland

Seinen ersten Vornamen, Karl, verschwieg Siegfried Unseld am liebsten, obwohl der zweite, der Rufname (in der Kindheit abgekürzt als »Sigo« oder »Sieger«), ihn unverkennbar in eine germanische Tradition stellte, die oft missbraucht worden war. Deshalb litt er jahrelang unter dem »verfluchten Wagner-Namen«, bis er Margarete Mitscherlich 1973 selbstbewusst erklärte: »Mein Vorname kann nur mit zweimal ›ie‹; geschrieben werden: Sieg und Frieden, Sieg durch Frieden, Frieden durch Sieg, oder wie immer Du willst.« Deshalb habe er den Vorschlägen von Adorno widerstanden, »mich Frieder zu nennen, oder denen von Bloch, mich Friedel zu nennen. Peter war einfach nicht möglich wegen meines verehrten Peter Suhrkamp, der übrigens ja auch Heinrich hieß.«

Bereits an den Namen der von Siegfried Unseld besuchten Schulen lässt sich ablesen, wie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme auf das Kind und den Jugendlichen einwirkten: Ging er, bis 1938, auf das Blauring-Realgymnasium (benannt nach der Blau), legte er 1942 das vorläufige Abitur an der Hans Schemm-Oberschule ab (benannt nach dem nationalsozialistischen Kultusminister Bayerns), erlangte er schließlich 1946 das »richtige« Zeugnis der Reife an der Oberschule West, dem späteren Schubart-Gymnasium (womit nach dem Krieg der Versuch unternommen wurde, eine schwäbische Demokratietradition zu beleben).

Der Nationalsozialismus drang den vorliegenden Dokumenten zufolge bis in die Familie vor. Der Vater Ludwig trat im Mai 1933 in die NSDAP ein und soll, laut einem Gerichtsurteil von 1947, in der Pogromnacht im November 1938 als Mitglied der SA am Niederbrennen zweier Synagogen im Umland von Ulm beteiligt gewesen sein – was er bestritt, ihm jedoch eine Verurteilung zu zehn Monaten Gefängnis eintrug.

Siegfried Unseld gehörte zum Jungvolk, 1940 wurde er Fähnleinführer. Konnte er als Sechzehnjähriger noch in diesem ersten Kriegsjahr mit Freunden das Ziel der Fahrradtour selbst auswählen, hatte sich der Achtzehnjährige Ende 1942 aufgrund der Einberufung in Libau (Lettland) zur Ausbildung als Marinefunker einzufinden. In den folgenden Jahren wurde er durch Osteuropa »geführt«, wobei ihm in extremen Situationen das Schwimmen und das Schachspiel halfen – eine körperliche und eine geistige Tätigkeit, die er sein ganzes späteres Leben pflegen sollte. Als im Mai 1944 die sowjetischen Truppen die Krim fast vollständig zurückerkämpft hatten, so dass nur noch die Festung Sewastopol von deutschen Truppen gehalten wurde, Hitler den Räumungsbefehl (am 8. Mai) aber erst so spät erteilt hatte, dass die Plätze, an denen die Schiffe die Soldaten aufnehmen konnten, bereits in der Reichweite der Artillerie lagen und mehrere Räumungsschiffe versenkt worden waren, schwamm Siegfried Unseld (in der Nacht vom 10. auf den 11. oder vom 11. auf den 12. Mai) wie auch andere Soldaten ins Schwarze Meer hinaus und den Schiffen entgegen. Berechnungen zufolge betrug im Zeitraum zwischen dem 8. April 1944 und dem 13. Mai 1944 die Zahl der Toten und Vermissten auf der Krim 57.500 Soldaten, gerettet wurden 37.500 Personen.

Am 29. Januar 1945 befand sich Siegfried Unseld bei der 3. Marinenachrichtenkompanie in Bernau bei Berlin, die direkt dem Oberkommandierenden der Kriegsmarine unterstellt war. Das Oberkommando wird von dessen Chef, Großadmiral Dönitz, zunächst am 22. April nach Plön in Holstein, am 2. Mai – nach Hitlers Tod fungiert er als Reichspräsident – nach Flensburg-Mürwik verlegt. Nach der Auflösung der Geschäftsführenden Regierung durch die Alliierten wurde Siegfried Unseld aufgrund seiner Schulkenntnisse in Englisch zum Dolmetscher. Mit einem von ihnen, einem britischen Major, hatte er nicht nur »dienstlichen Umgang«, der es ihm ermöglichte, »seine Sprachkenntnisse vervollkommnen zu können«, sondern er wurde auch als Schachpartner geschätzt, was ihn vor der Gefangenschaft durch die Sowjets, in die die nach Rostock überführten Wehrmachtsangehörigen gerieten, bewahrte.

In der Erinnerung datierte Siegfried Unseld seine eindeutige Kritik am »Dritten Reich« auf die Zeit unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Der Bruch sei erfolgt, als ein Leutnant seiner Ersatzkompanie ihm in Griechenland von den Verbrechen deutscher Truppen erzählt habe.

Am 4. Februar 1946 aus britischer Gefangenschaft entlassen, drückt er bereits drei Wochen später, genauer: ab dem 25. Februar, die Schulbank, um das reguläre Abitur nachzuholen, was am 2. Juli 1946 erreicht war. Im Fach Deutsch wurde er unterrichtet von Eugen Zeller, der, ein langjähriger Freund von Hermann Hesse, ihn mit dessen Werk bekannt machte – eine intellektuelle Erfahrung, die einen umwälzenden und in der Folge bestimmenden Einfluss auf sein geistiges und persönliches Universum hatte.

Vom Buchhandlungsgehilfen zum Verleger des Suhrkamp Verlags

Das Betriebstagebuch des Aegis-Verlags Ulm, Rechbergweg 17, den Ernst G. S. Bauer gegründet hatte, vermerkt unter dem Datum des 7. Oktober 1946: »Arbeitsaufnahme durch Herrn Unseld als Praktikant für Verlag und Schriftleitung«. Die Bezeichnung als Praktikant erklärt sich daraus, dass unmittelbar nach Kriegsende Ausbildungsgänge noch nicht geregelt waren – mit der Folge, dass Siegfried Unseld bereits nach dreizehn Monaten, am 27. November 1947, seine Prüfung als Buchhandlungsgehilfe (übrigens »mit Auszeichnung!«) ablegen konnte. Die Beschreibung seiner Tätigkeit als der »Schriftleitung« zugeordnet, bedeutete: er arbeitete mit an der Herausgabe und Redaktion der im Aegis-Verlag erscheinenden Zeitschrift Pandora, die es allerdings nur auf zehn Nummern brachte. Hier kam es zu überraschenden Anforderungen: »Beim Heft ›Bausteine zu einem Weltfrieden‹ gab es eine Panne. Die braune Vergangenheit eines Autors, der über Bernard Shaw schreiben sollte, wurde erst verspätet von der Militärregierung entdeckt – und der Autor war für die Veröffentlichung gesperrt. Was tun? … Mein Lehrherr dekretierte: Ich sollte mich in Stuttgart ein paar Tage in die Staatsbibliothek setzen, Shaw studieren und dann den geforderten Themenbeitrag schreiben. Befohlen, getan.« Das »Gesellenstück« im Aegis-Verlag (benannt nach dem von Hephaistos geschmiedeten Schutzschild des Zeus) war die eigenständige Herstellung eines Buches: »Ich durfte den Autor selbst wählen, sein Werk lektorieren und die Buchform bestimmen. So entstand der Band Gedichte von Maria Müller-Gögler, der damals in Weingarten lebenden Dichterin.
Meinen alten Deutschlehrer, Eugen Zeller, bat ich um ein Vorwort. Hermann Hesse hat das Buch lobend bedacht. Die Zeile eines Gedichts zählt für mich heute noch: »… ›daß das Leben sich erlöse im Spiel‹«.

Die Arbeit für Pandora trug schließlich, auch den ersehnten Studienplatz an einer Universität ein: Beim Einwerben von Wilhelm Weischedel, dem in Tübingen lehrenden Philosophen, als Beiträger der Zeitschrift geriet Siegfried Unseld in dessen Seminar, fiel dem Leiter auf und durfte sich, da dieser Vorsitzender der Zulassungskommission war, in Tübingen immatrikulieren. Das geschah zum Wintersemester 1947/48, womit das Studium sich direkt an die Buchhandlungsgehilfenprüfung anschließt. Dies absolvierte er – der Student Unseld ließ sich in den ersten Semestern von keinem feststehenden Abschluss, sondern von seinen Vorlieben leiten und besuchte Seminare in »Philosophie, Literatur- und Kunstgeschichte, Sinologie und Indologie, Völkerrecht und moderner Verfassungsgeschichte« – am Anfang an den Rändern des Tages. Denn während der Hauptzeiten arbeitete Siegfried Unseld – zwischen dem 1. Januar 1948 und dem 31. Oktober 1949 – im Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), um das Studium zu finanzieren. Dort besteht 1949 eine seiner Aufgaben darin, aus dem Manuskript mit dem Titel Philosophie der neuen Musik ein Buch zu machen. Es war das erste eines Autors nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, der in diesem Zeitraum dabei war, aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückzukehren; bekannt wurden Name wie Werk erst, als er seine Bücher in Peter Suhrkamps Verlag publizierte und seine Ideen in den sechziger Jahren Geistesnahrung für die studentische außerparlamentarische Opposition wurden. Da hieß der Verleger des Suhrkamp Verlags Siegfried Unseld. Als Mitarbeiter von J. C. B. Mohr hatte er mit Theodor W. Adornos Buch seine Schwierigkeiten. »Ich war damals mit dem Manuskript zu einem Professor der Philosophie gegangen, aber er erklärte mir schlicht, es nicht zu verstehen; ein Musikwissenschaftler der Universität kam über die Seite 4 ›Falsches musikalisches Bewußtsein‹ nicht hinaus … Wir überlegten uns damals auch, wer als Leser und Kritiker für ein solches Buch angesprochen werden könnte, fanden fünf Leute, denen ich das Buch schickte, mit der Bitte, mir wiederum ›Interessenten‹ zu nennen.«

Bei Friedrich Beißner, dem Hölderlin-Editor, konnte er mit einer Arbeit über einen lebenden Autor promovieren – damals eher eine Seltenheit. Wer sich zu Weihnachten 1946 das Glasperlenspiel wünscht, weil das Werk dieses Autors die eigene »Denkungsart« revolutioniert und zwei Jahre später eine achtseitige Besprechung des Romans für die Tübinger Studentischen Blätter verfasst, der wird seine Dissertation über Hermann Hesse schreiben, über »Hermann Hesses Anschauung vom Beruf des Dichters«. Die mündliche Prüfung wurde am 24. Juli 1951 abgelegt. Aus heutiger Sicht nahezu prophetisch ist eine der Begründungen des Promovenden für die Wahl seines Themas, nämlich sie sei erfolgt in Übereinstimmung mit »einem … seiner verlegerischen Arbeit erwachsenen Grundsatz, das Alte [also etwa Hölderlin] verehrend zu bewahren, für das Neue [also Hesse] aber da zu sein«. Entschied sich hier jemand, der als Buchhandelsgehilfe zusammengerechnet noch nicht einmal drei Jahre in einem Verlag gearbeitet hat, vor oder während der Niederschrift dieses Satzes für ein Berufsziel? Oder wollte er den Akademikern deutlich machen, dass er auch handwerklichen Umgang mit Manuskripten und Büchern pflegte?

Das Jahr 1951, Siegfried Unseld war 27 Jahre alt, stellt im Leben des Siegfried Unseld privat wie beruflich eine wichtige Zäsur dar. Am 14. April 1951 heiratete er im Ulmer Dom die zwei Jahre ältere Hauswirtschaftslehrerin Hildegard (»Hilde«) Schmid, am 26. Juli, zwei Tage nach seinem Rigorosum, starb der Vater, und vier Wochen später, Ende August, kam es zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Hermann Hesse und Siegfried Unseld. Hilde und Siegfried Unseld hatten Mitte August eine als Ferien in der Schweiz getarnte »Pilgerfahrt« zu Hesse angetreten. An seinem Wohnsitz in Montagnola, dem ersten Ziel der Reise, konnten sie ihn nicht treffen, da er sich im Schloss Bremgarten bei Bern aufhielt. Nachdem die beiden dies in Erfahrung gebracht hatten, machten sie sich dorthin auf, und es kam zu einem Gespräch zwischen dem Ehepaar Hesse und dem Ehepaar Unseld. Wie diese Begegnung ausfiel, belegt zum einen ein auseinandergefalteter Briefumschlag, auf dem Siegfried Unseld die Gesprächsthemen handschriftlich festgehalten hat; dieser Umschlag beschließt, als wichtiges Dokument, das Fotoalbum, das die Reise belegt.
Zum zweiten schreibt Hermann Hesse an Eugen Zeller, den Deutschlehrer aus Ulmer Zeiten, unter dem Datum des 31. August: »Und am Sonntag erschien, während wir beim schwarzen Kaffee sassen, ein junger Fremder, der kam aus Ulm und hiess Unseld, er war nett, er gefiel uns gut.«
Vier Wochen später, am 3. Oktober, fragte Siegfried Unseld brieflich bei Peter Suhrkamp an, ob er nicht in dessen Verlag arbeiten könne. Es kam noch im Oktober zu einem Gespräch zwischen beiden in Frankfurt sowie zu einer Einigung, die Unseld im Dezember in einem Brief an Suhrkamp bestätigt. »Die mir anvertrauten Arbeitsgebiete, Vertrieb, Herstellung, Werbung und gelegentlich Lektorat, entsprechen dem, was mich an der Verlagsarbeit wesensmäßig interessiert.« Der erste Arbeitstag ist Montag, der 7. Januar 1952, zuerst in der Neuen Mainzer Straße 56, ab 1953 am Schaumainkai 51, ab 1956 am Untermainkai 13.

Peter Suhrkamp war ein unnachgiebiger Lehrherr. Da der Aufenthalt im Konzentrationslager seine körperliche Konstitution aufs äußerste geschwächt hatte, so dass er sehr häufig Sanatorien aufsuchen musste, ihm gleichwohl daran gelegen war, die Berliner Dependance des Verlags aufrechtzuerhalten, Reisen zu Autoren etwa in Paris (Beckett) oder Stockholm (Laxness) notwendig waren, hielt er sich nur selten in Frankfurt auf. Dennoch lag die Entscheidungsbefugnis in allen Fragen und allen Details bei ihm. Schon bei seiner ersten Arbeit, einem Brevier zu Hermann Hesse anlässlich dessen 75. Geburtstages, entdeckte Suhrkamp, den Unseld im Rückblick einen »Magier der Verwandlung des Manuskriptes zum Buche« nannte, Ungereimtheiten, die er brieflich von Montagnola aus beanstandete, und der Schüler vermeldete: »Selbstverständlich werden alle Ihre Korrekturen berücksichtigt«. Die in Siegfried Unselds Gehalt eingerechnete »Trennungsentschädigung« brauchte nur wenige Monate gezahlt zu werden, denn Mitte Juni 1952 bezogen die Unselds eine Wohnung in Frankfurt, in der Eschersheimer Landstraße 94. Ein Jahr später, am 20. September 1953, wurde der Sohn Joachim geboren.

Jahr um Jahr wurde seine Position im Verlag stärker: 1954 konnte er zum ersten Mal einen Beitrag in der Werbezeitschrift des Verlags (Morgenblatt für Freunde der Literatur) publizieren, seine Ausführungen zu Max Frischs Roman Stiller. 1955 hielt er sich zwischen dem 4. Juli und dem 24. August in den USA auf, wo er die von Henry Kissinger geleitete Harvard Summer School of Arts and Sciences and of Education besuchte (die Referenzen Unselds für diese Kurse, die sich an Personen wandten, von denen zu erwarten stand, dass sie später wichtige Positionen in ihren Ländern übernehmen würden, stammten von Hermann Hesse, Carlo Schmid und Peter Suhrkamp, der diesen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten angeregt hatte).

Ab 1956, nach dem Tode Bertolt Brechts im August, war er für die Fortführung der Edition von dessen Werk verantwortlich und arbeitete eng mit Elisabeth Hauptmann zusammen. Sie besuchte er zum ersten Mal in Ostberlin im November – hier wurden die persönlichen Voraussetzungen für alle folgenden Brecht-Ausgaben gelegt. War für den Doktoranden 1951 das Neue noch Hermann Hesses Werk gewesen, so wandelte sich dieses Urteil in kurzer Zeit, galt es nun, Hesses und Brechts Werk verehrend zu bewahren und zugleich für das Neue dazusein, für die ersten Bücher der Generation der Dreißigjährigen, die, wie der 1927 geborene Martin Walser, zu engen Freunden oder, wie der 1929 geborene Hans Magnus Enzensberger, zu engen Beratern wurden.

Am 1. Januar 1958 wurde Siegfried Unseld persönlich haftender Gesellschafter des Suhrkamp Verlags, der in Abwesenheit von Peter Suhrkamp die Richtlinienkompetenz besaß; am 1. April 1959, einen Tag nach Suhrkamp Tod und entsprechend dessen Testament, alleingeschäftsführungsberechtigter Gesellschafter.

Die Linie der Aufklärung

1959, das Jahr der Übernahme der verlegerischen Verantwortung, war für Siegfried Unseld besonders wichtig. Ihm war klar, dass der Verlag nur weiterbestehen konnte, wenn Peter Suhrkamps programmatische Linie beibehalten wurde, und ihm war gleichzeitig bewusst, dass sie sich nur aufrechterhalten ließ, wenn sie modifiziert würde. Wollte man diese Änderungen auf einen Nenner bringen, wäre die Formulierung »Modernisierung in kritisch-aufklärerischer Absicht« angemessen. Siegfried Unseld selbst hätte Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre die Gründe für seine Entscheidungen sicher nicht so benannt. Doch weist jede der einzelnen Veränderungen in diese Richtung: Da wurde zunächst die Theaterabteilung (der Verlag besaß die Aufführungsrechte an den Stücken z.B. von Max Frisch und Bertolt Brecht) zu einem eigenen Theaterverlag ausgebaut (erster Leiter: Karlheinz Braun), da sich hier eine lukrative Einnahmequelle für Autoren wie Verlag auftat.

Buchcover Hermann Hesse: Die Morgenlandfahrt

Darüber hinaus wurde die Bibliothek Suhrkamp, von Peter Suhrkamp 1951 als »Elite-Bibliothek« (so Hermann Hesse, dessen Morgenlandfahrt Band 1 bildete) ins Leben gerufen, radikal umgestaltet. Das betraf zum einen die Umschläge: Im Juni 1959 begegnete Siegfried Unseld erstmals dem Grafiker Willy Fleckhaus. »Peter Suhrkamp hatte in seinen letzten Lebensmonaten endlich die Zustimmung gegeben, neue Entwürfe für die Umschlaggestaltung der Bibliothek Suhrkamp vorschlagen zu dürfen. … Ich verteidigte die Entwürfe … Meine Beharrlichkeit provozierte ihn. Weder für den Suhrkamp Verlag noch für die Bibliothek Suhrkamp seien diese Umschläge möglich. Sie seien der Modernität der Literatur nicht angemessen … als ich ihn bat, er möge mir doch auch einen Entwurf für die Bibliothek Suhrkamp machen, stimmte er sofort zu. Wir beide können es bezeugen: Nach vier Wochen traf ein einziger Entwurf von Fleckhaus ein, und ich konnte mich, in Übereinstimmung mit allen Mitarbeitern, ganz spontan für diesen Umschlag entscheiden.« Das Ergebnis: Ein um den gesamten Umschlag laufendes Band teilt ihn in ein Quadrat (oberhalb) und ein Rechteck (unterhalb), so dass mit dem Slogan »Bücher über der Linie« geworben werden konnte. Zum andern änderten sich die Erscheinungstermine: Statt einmal jährlich (an Pfingsten) sechs Bände an den Buchhandel auszuliefern, erschienen ab 1960 jährlich viermal zwei Bände (später zwei, dann vier pro Monat, gegenwärtig sind es sechs Bände im Frühjahr, sechs Bände im Herbst). Damit wurde ein erster Schritt in Richtung einer taschenbuchähnlichen Serie vollzogen. Sieht man von minimalen Modifikationen auf dem Umschlag und in der Ausstattung ab, so ist diese Reihe der »Klassiker der Moderne« unverändert bis heute weitergeführt worden (im September 2004 erscheint Band 1384: Siegfried Unseld, Briefe an die Autoren, herausgegeben von Rainer Weiss, in Anlehnung an Band 100, Peter Suhrkamp, Briefe an die Autoren).

Siegfried Unseld und Willy Fleckhaus«

Als eindeutige Modernisierung des Verlagsprogramms durch Siegfried Unseld ist die Gründung der edition suhrkamp im Jahre 1963 anzusehen. Hatte Peter Suhrkamp für die Literatur, die in seinem Hause verlegt wurde, die Form des Taschenbuches für ungeeignet gehalten, vertrat Siegfried Unseld die Auffassung, moderne Literatur müsse in modernem Gewand und zu auch von Studenten bezahlbaren Preisen publiziert werden. Während bei der Umgestaltung der Bibliothek Suhrkamp die Mitarbeiter mit Siegfried Unseld übereinstimmten, stieß sein Vorhaben einer Taschenbuchreihe bei Mitarbeitern wie bei Autoren auf Ablehnung. Max Frisch, Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson oder Martin Walser, die Lektoren Walter Boehlich und Karl Markus Michel – sie alle fürchteten einen Qualitätsverlust infolge des mit jeder Taschenbuchreihe einhergehenden Zwangs, monatlich eine bestimmte Anzahl von Bänden auf den Markt zu bringen. Doch Siegfried Unseld setzte sich durch, nicht zuletzt auch deshalb, weil erneut Willy Fleckhaus Umschläge für die edition suhrkamp entwarf, die nicht nur zum Zeitpunkt ihrer Entstehung überzeugend waren, sondern Geschichte machten. Er wählte eine Schriftlösung, bei der Autor, Titel, Verlagsreihe und Verlag durch eine Linie getrennt waren und die jährliche Produktion von 48 Bänden die Farben des Regenbogens durchliefen (in einer Kritik hieß es: »Hier triumphiert die Moderne. Hier triumphiert die junge Generation.«). Folglich konnte man sich bei der Ankündigung der neuen Reihe den Satz erlauben: »Die edition suhrkamp leistet sich Luxus und Leidenschaft einer Linie.« So war Bertolt Brechts Theaterstück Das Leben des Galilei, das vom letztendlichen Triumph der menschlichen Vernunft trotz aller Widrigkeiten ausgeht, folgerichtig Band 1 der Reihe. Sie vor allem bewirkte die Popularisierung von Brechts Werk ‒ für Siegfried Unseld der Aufklärer per se ‒ , die in der unerwartet großen Verbreitung einer von Elisabeth Hauptmann betreuten Gesamtausgabe als zwanzigbändige Werkausgabe in der edition suhrkamp ihren ersten Höhepunkt fand.

Die in dieser Reihe erscheinenden Bände begründeten die Wahrnehmung bei Kritikern und Publikum (die bis heute nur leicht variiert besteht), das Programm des Suhrkamp Verlags sei links und Siegfried Unseld sei ein Linker. Andere Kritiker befanden, differenzierter, die edition suhrkamp sei die in Buchform inkarnierte gesellschaftliche Aufklärung. Die Tatsache, dass Aufklärung auf Widerstand ganz unterschiedlicher Art treffen kann, spürte Siegfried Unseld, als er eine weitere Neuerung im Verlag einführte, nämlich eine Zeitschrift.

Ein Bild der Reihe »edition suhrkamp«

Nachdem ein zunächst geplantes Periodikum, das in Frankreich, Italien und Deutschland in gleicher Form und mit gleichem Inhalt erscheinen sollte (Arbeitstitel: »Gulliver«), gescheitert war, entwarf Hans Magnus Enzensberger das Konzept für eine von ihm herausgegebene und von Karl Markus Michel redigierte Zeitschrift. Nach kontroversen Vorgesprächen, bei denen es um den Einfluss des Verlegers auf die Zeitschrift ging, erschien im Juni 1965 Kursbuch 1. Bei den Vorbereitungen war sich Siegfried Unseld bewusst, dass ein Verlag, der Autoren und deren Gesamtwerk publiziert, in seinen Grundlagen gefährdet ist, wenn es zu öffentlichen Auseinandersetzungen über bestimmte Formen der Literatur oder über Literatur selbst kommt. Zunächst schienen Befürchtungen solcher Art gegenstandslos — das Kursbuch erwies sich bei Lesern und Autoren als äußerst erfolgreich und beliebt. Im November 1968 nahm Siegfried Unseld allerdings Anstoß an folgenden Sätzen von Walter Boehlich (der war gerade nach der Lektorenrevolte aus dem Verlag ausgeschieden): In Kursbuch 15 hatte er unter der Überschrift »Autodafé« über die Literaturkritik die These lanciert: »Die Kritik ist tot. … Sie ist gestorben mit der bürgerlichen Welt, … mit der bürgerlichen Literatur.« Siegfried Unseld verstand dies als den Versuch, die Literatur für tot zu erklären, und damit als Leugnung der Existenzberechtigung eines Literatur publizierenden Verlags. Nachdem ihm ein weiterer der der Zeitschrift beiliegenden »Kursbögen« gegen seine Grundsätze gerichtet schien, derjenige von Heft 19 unter dem Titel »Die Anarchisten auf dem Picadilly: ratlos«, schrieb er an den »lieben Mang«: »Wir haben das Kursbuch in einer Art Partnerschaft begonnen. Wir haben am Anfang die politisch, sagen wir einmal ›heiklen‹ Themen freimütig miteinander erörtert. … Das ist in den letzten Jahren … nicht mehr geschehen. Ich bin ein einziges Mal gefragt worden, ob ich einem Kursbogen für das Heft Nr. 15 zustimme. Du und Michel habt mir in diesem Kursbogen den Beitrag von Boehlich zugemutet, und nicht nur mir zugemutet, sondern einer Öffentlichkeit, die sich darüber wirklich nur gewundert hat. … Der letzte Schritt ist dann wirklich der Kursbogen für Heft 19. Diesen Weg kann ich nicht weiter mitgehen.« Es erscheint im Suhrkamp Verlag noch das Heft 20 des Kursbuchs. Bis zu seinem Tod hat Siegfried Unseld sich, trotz zahlreicher, weitgediehener Planungen geweigert, sein Placet zu einer anderen Verlagszeitschrift zu geben.

Ein Aufklärer, ein Liberaler, ein Leiter eines Verlags, der sich auf dem Buchmarkt unsubventioniert behaupten muss, befindet sich in Zeiten, in denen Aufklärung wie Kapitalismus als »bürgerlich« in die Kritik geraten, häufig zwischen allen Fronten. Besonders offensichtlich wird dies bei den Geschehnissen vor, während und nach den Buchmessen in Frankfurt 1967 und 1968.

Die Auseinandersetzungen auf der Messe 1967 ‒ mit zeitweiliger Schließung von Ausstellungshallen, Polizeieinsatz und tumultuösen Sitzungen des Börsenvereins ‒ resultieren einerseits aus gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen, andererseits aus der Struktur der Standesorganisation des Buchhandels, des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Zwischen dem 5. und 8. Oktober, also kurz vor der Eröffnung der Messe, traf sich die Gruppe 47 in der Pension Pulvermühle in der Nähe von Bayreuth zu den bereits damals legendären Lesungen und Diskussionen (unter den Teilnehmern wie schon seit Jahren Siegfried Unseld). Mitglieder des Erlangener SDS demonstrierten im Rahmen der kurz zuvor gestarteten Anti-Springer-Kampagne vor dem Wirtshaus und veranstalteten Happenings. Von den 100 anwesenden Schriftstellern, Kritikern und Verlegern Unterzeichneten über 70 eine Resolution, in der festgehalten wurde: »1. Wir werden in keiner Zeitung oder Zeitschrift des Springer-Konzerns mitarbeiten. 2. Wir erwarten von unseren Verlegern, daß sie für unsere Bücher in keiner Zeitung oder Zeitschrift des Springer-Konzerns inserieren.« Siegfried Unseld entsprach diesen Erwartungen und Unterzeichnete zu Beginn der Buchmesse mit den Kollegen der führenden schöngeistigen Verlage eine Erklärung, wonach sie in keiner zum Springer-Konzern gehörenden Zeitung mehr für ihre Bücher werben wollten. Dieser Beschluss verstärkte die bereits bestehenden Spannungen innerhalb des Börsenvereins. Zunächst war es in der ersten Hälfte des Jahres zu Unmutsäußerungen gekommen, als der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, dem Siegfried Unseld seit 1962 angehörte, Ernst Bloch als Preisträger (der Preis wird traditionell am Messe-Sonntag überreicht) auszeichnete, einen »Marxisten«, wie es in den damals betont konservativ agierenden Buchhändler- und Verlagskreisen hieß. Auch zur Teilnahme von Verlagen der DDR gab es, wie fast jedes Jahr zuvor, konträre Positionen: die einen, vor allem jene in der Bundesrepublik, deren Häuser in der DDR enteignet und unter demselben Namen fortgeführt worden waren, lehnten Stände von Verlagen aus der »Sowjetisch besetzten Zone« ab, andere begrüßten sie, weil sie, wie z. B. der Suhrkamp Verlag, mit DDR-Verlagen Lizenzabschlüsse tätigten. 1967 traten die DDR-Verlage auf der Messe auf. Die kontroversen Haltungen prallten offen aufeinander, nachdem Die Zeit am 13. Oktober die Ergebnisse einer Umfrage unter dem Titel »Ist der Frankfurter Börsenverein reformbedürftig?« veröffentlichte. Daraufhin wurden auf der Hauptversammlung des Deutschen Börsenvereins am Messe-Sonntag Siegfried Unseld als »Verleger, der sich einen roten Mantel verdienen will« (eine Anspielung auf den Verkaufserfolg der zwanzigbändigen Brecht-Ausgabe), und Klaus Wagenbach, der sich ebenfalls an der Umfrage beteiligt hatte, als »Maoist« bezeichnet.

Als dann – während des »Streits der Papiertiger« – der SDS seine Kampagne gegen den Springer-Verlag in die Messehallen trug und vor dem Stand der Welt protestierte, war die Direktion der Ausstellungs- und Messe-GmbH (in deren Aufsichtsrat Siegfried Unseld seit 1965 saß) überfordert: Polizei rückte an, einer der mutmaßlichen »Rädelsführer«, Frank Wolff, wurde verhaftet, und erst nach dem Beschluss, von einer Anzeige abzusehen, und der Freilassung von Wolff endeten die Proteste.

Der Vorstand des Börsenvereins, insbesondere Friedrich Georgi und Rolf Keller, sah durch ein solches Erscheinungsbild der Messe nicht nur den Ruf der eigenen Organisation gefährdet, sondern das Buch selbst, denn: »Die Frankfurter Buchmesse repräsentiert die Welt des Buches.« Deshalb wurden Anfang 1968 Rechtsgutachten über Polizeieinsätze auf dem Messegelände in Auftrag gegeben, fanden Besprechungen mit der Polizeidirektion über ein strategisches Vorgehen in der Paulskirche und in den Messehallen während des Zeitraums zwischen dem 19. und 24. September 1968 statt. In einem Brief an die Aussteller hieß es, man werde die Polizei rufen, wenn die »ordnungsgemäße Messearbeit« durch »politische Auseinandersetzungen irgendwelcher Art« gestört werde. Die Messeveranstalter hatten vor allem den SDS im Visier, dabei jedoch übersehen, dass in den Reihen der Verlage viele mit den Protestierenden sympathisierten. Dies waren die Voraussetzungen der »Polizeimesse«.

Der studentische Protest entzündete sich am Friedenspreisträger, dem senegalesischen Staatspräsidenten und Schriftsteller Léopold Sédar Senghor, den sie für einen Diktator hielten. Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten griffen auf das Messegelände über, annähernd 100 Aussteller schlossen wegen der Polizeipräsenz ihre Stände oder drohten mit ihrer Abreise ‒ nun war die Buchmesse in ihrer Existenz gefährdet.

Der beim Börsenvereinsestablishment als Linker verschriene Siegfried Unseld machte bei den Veranstaltern die Argumente der Protestierenden deutlich und verhandelte zugleich mit den Demonstranten, die Buchmesse konnte mehr recht als schlecht zu Ende gebracht werden — aber Siegfried Unseld wurde von rechts und links kritisiert. So bezog er als aufrechter Liberaler Prügel von allen Seiten. Die ihn am empfindlichsten treffende Kritik war die seiner Lektoren, die ihm drei Tage nach Ende der Messe in einem Brief vorwarfen: »Ihr öffentliches Auftreten und Ihre Äußerungen während der Messetage haben in uns … den Eindruck erweckt, daß Sie die Tendenz der Verlagsprogramme … für sich selbst vielleicht nicht als verbindlich anerkennen.« Sie schlugen eine Lektoratsverfassung vor, in der er, wie jeder Lektor, eine Stimme haben sollte ‒ bei Stimmengleichheit allerdings sollte seine Stimme doppelt zählen. Das akzeptierte Siegfried Unseld nicht, der zwar Aufklärer war, aber Hierarchie in Dingen des Verlegens ‒ wie auch seine Autoren ‒ für unabdingbar ansah, und mehrere Lektoren verließen den Verlag.

Der Planer …

Modernisierung bedeutet unter marktwirtschaftlichen Bedingungen Expansion. Für den Suhrkamp Verlag war sie überlebensnotwendig, denn in den fünfziger Jahren war das Jahresergebnis häufig negativ und es nur der Großzügigkeit der Schweizer Kommanditisten des Verlags, Balthasar und Peter Reinhart, zu verdanken, dass eine ökonomische Schieflage verhindert werden konnte. Siegfried Unseld weitete deshalb das Programm aus, erwarb mit den genannten Kommanditisten zu Beginn des Jahres 1963 den traditionsreichen Insel Verlag, im gleichen Jahr auch den in Baden-Baden ansässigen Verlag August Luzeyer, der unter dem Namen Nomos Verlag weitergeführt wurde. 1959 erschienen im Suhrkamp Verlag 15 Titel, 1969 185, 1979 311, 1989 411, 1999 363 – was einen Anstieg der Mitarbeiter von Insel und Suhrkamp im selben Zeitraum von 14 auf etwa 140 nach sich zog.

Betrachtet man – neben den täglichen Entscheidungen über Manuskripte, Werbemaßnahmen usw. – die von Siegfried Unseld gedachten und gemachten Buchreihen, Sub-Reihen, Feiern von gewichtigen Todestagen oder Geburtstagen der Autoren, das Starten von Werkausgaben und berücksichtigt man, welch enorme Menge von Publikationen geplant war, aber schließlich scheiterte oder verworfen wurde, muss man das Projektieren von Publikationen als eines der ihm liebsten ernsten, intellektuellen, riskanten Spiele bezeichnen.

Stichwortartig zusammengefasst liest sich eine sehr kleine Auswahl für die Jahre 1971 bis 1984:

1971: Gründung der suhrkamp taschenbücher. Nachdem die edition suhrkamp gegen Ende der sechziger Jahre nur noch Erstausgaben vorlegte, musste ein Weg gefunden werden, um bei der Lizenzvergabe von anderen Verlagen unabhängig zu werden. Die Lösung bestand in einer Taschenbuchreihe, deren Titel zunächst zu annähernd 100 Prozent aus den Hauptprogrammtiteln des Verlags bestand.

1972: Gründung der insel taschenbücher. Da sich zum damaligen Zeitpunkt der Taschenbuchmarkt vor allem durch Quantität, weniger durch Qualität (in Inhalt wie Ausstattung) auszeichnete, bot es sich an, mit besonders schön ausgestatteten Büchern und einem klassischen Programm, welches das Markenzeichen des Insel Verlags war, eine Marktlücke zu füllen.

1973: Gründung der suhrkamp taschenbücher wissenschaft. Mir der stetigen Zunahme der Publikationen im wissenschaftlichen Programm des Verlags war es notwendig, auch diese zu niedrigeren Preisen vor allem Studenten anzubieten.

1974: Gründung der Suhrkamp Literaturzeitung. Im Gefolge der Auflösung des traditionellen Bildungskanons in den deutschen Gymnasien wollte diese Zeitung an den Schulen zeitgenössische Autoren in den Vordergrund spielen, natürlich solche des Suhrkamp Verlags. Auch der Planung bedurfte selbstverständlich die Feier des eigenen fünfzigsten Geburtstags, denn immerhin trafen sich in Königstein 450 feierwillige Gäste.

1975: Einen Anlass wie das 25-jährige Bestehen des Verlags am 1. Juli konnte Siegfried Unseld nicht ohne besondere Aktivitäten verstreichen lassen: Also wurden landauf, landab, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Suhrkamp-Buchwochen veranstaltet, in deren Mittelpunkt Max Frischs neuer Roman Montauk stand sowie ein von Uwe Johnson zusammengestelltes Max-Frisch-Lesebuch.

1976: »Buch des Monats«. Die Kooperation mit dem Spiegel für ein solches Projekt erfolgt fast dreißig Jahre vor dem vergleichbaren Vorhaben der Süddeutschen Zeitung.

1977: Wer, wenn nicht Siegfried Unseld, sollte den hundertsten Geburtstag Hesses angemessen in der Öffentlichkeit würdigen und zugleich dafür sorgen, dass seine Bücher – durch die Edition einer äußerst erfolgreichen achtbändigen Paperbackausgabe in Schmuckkassette – noch mehr Leser fanden.

1978: Auch hier stand Hermann Hesse Pate, als der Verlag die Rechte am Gesamtwerk von Robert Walser zu dessen hundertstem Geburtstag übernahm (schon früh hatte Hesse ihm, damit die Welt besser werde, zahlreiche Leser gewünscht) und dies in Zürich mit Matinees und Soirees drei Tage lang feierte.

1979: Der Suhrkamp Verlag war (und ist) der hauptsächliche Förde­rer der Gastdozentur für Poetik. Diese in Deutschland erste Dozentur für Schriftsteller war 1959 in Zusammenarbeit mit der Johann Wolfgang Goethe-Universität ins Leben gerufen, in den Zeiten der Studentenrevolte jedoch unterbrochen worden.

1980: Es schien die Zeit reif für die Gründung von Suhrkamp-Insel Publishers, Boston, um deutsche Literatur direkt den amerikanischen Lesern nahezubringen.

1981: Innerhalb des Insel Verlags wird der Deutsche Klassiker Verlag gegründet.

1982: Es galt, das umfangreichste Programm an Büchern aus Lateinamerika, das ein Verlag in der Bundesrepublik publiziert hatte, einer großen Öffentlichkeit vorzustellen.

1983: Gegen den vorherrschenden Trend richtete sich die Entscheidung, im ersten Halbjahr dieses Jahres keine Novitäten zu präsentieren, sondern auf bereits bekannte Werke zurückzugreifen. So wurden im 33. Jahr des Verlags 33 »Klassiker« des Verlags im Weißen Programm publiziert.

1984: Der von Siegfried Unseld zu seinem sechzigsten Geburtstag gegründeten gemeinnützigen Peter Suhrkamp Stiftung wurde der Nachlass Uwe Johnsons übertragen. Diese übertrug die Materialien dem Uwe Johnson-Archiv an der Johann Wolfgang Goethe-Universität als Dauerleihgabe.



2002: Zum 125. Geburtstag von Hermann Hesse initiierte Siegfried Unseld ein Programm mit dessen bekanntesten Werken für die junge
Generation (im Mittelpunkt stand, man erinnere sich an den Weihnachtswunsch für 1946, Das Glasperlenspiel) – und der Stern erklärte den Autor zum »Guru für die Jugend der Welt«.

… und der Agierende

Wenn man in dieser Weise lebt und arbeitet, muss man sich genau an einen festgelegten Stundenplan halten. Hier, von Siegfried Unseld selbst festgehalten, einige Stichpunkte über den Ablauf von 12 Tagen, nämlich den Zeitraum zwischen dem 1. und dem 12. Juli 1985, unmittelbar nach einer dreiwöchigen Fastenkur am Bodensee.

1. Juli 1985. In meinem Kalender steht für diesen Tag: 35 Jahre Suhrkamp Verlag, 35 Jahre Helene Ritzerfeld, 22 Jahre Nomos. / Telefonat mit Herrn Elmar Faber vom Aufbau Verlag. Er hat meinen Text »Das ist alles gar nicht so einfach« erhalten, quergelesen, aber er sei noch nicht zum ruhigen Lesen gekommen. In Deutsch: er muss diesen Text genehmigen lassen. / In der Post ein Brief von Wanda Hagemann vom 24.6.; sie gratuliert mir zum Ehrendoktor, meint aber, ich hätte so viele Doktorgrade, jetzt sollte ich mich bemühen, für Volker Michels einen Ehrendoktor zu beschaffen. / Ich lese Helmut Hillers Biographie »Heinrich der Löwe«. / Am Abend kleine Feier zum 35.

2. Juli 1985. Der 2. Juli ist immer der Geburtstag von Hermann Hesse, das wird so bleiben. Rainer Weiss und Joachim berichten über Klagenfurts Ingeborg Bachmann-Tage. Hermann Burger, der kommende Poetik-Gastdozent, hat den Ingeborg Bachmann-Preis erhalten. / Am Nachmittag Gunilla Weiss und ihr Rechtsanwalt Raue.

4. Juli 1985. Gedrängter Verlagsvormittag. Dann im Frankfurter Hof Herr Klinge, der sich in München für das »Evangeliar Heinrichs des Löwen« engagieren soll. / Fahrt nach Baden-Baden. Ich lese endlich meine Post, die sich angesammelt hat! / Dann H. Sauer. / Volker Schwarz fährt mich nach Frankfurt. / Mittagessen mit Burgel Zeeh bei Herrn Alfred Mauritz, dem Binding-Brauerei-Chef. / Im Verlag Besprechungen zum Evangeliar, a) Entscheidung zum Druckauftrag in Granolitho, b) Kalkulation, Subskriptions- und Ladenpreis, c) erste Werbemaßnahmen, Dokumentation undsoweiter.

5. Juli 1985. Morgens um 9 Uhr, nach dem Schwimmen, Hilmar Hoffmann und Günther Rühle. Es geht um den Frankfurter Dramatikerpreis. / Mittags nach Zürich.

6. Juli 1985. Früher Bummel durch die Bahnhofstraße Zürich. / Dann Sitzung der Max Frisch-Stiftung mit dem einzigen Tagesordnungspunkt: Verleihung eines Max Frisch-Werkjahres. / Mittagessen mit Bichsei, von Matt und Muschg. / Dann Besuch bei Max Frisch. / Zurück nach Frankfurt. / In der Klettenbergstraße wohnt Habermas. Ich habe ihm vor meiner Abreise nach Zürich sein neues Buch »Der philosophische Diskurs der Moderne« in sein Zimmer gelegt und als ich zurückkam, erwartete mich sein Brief vom »Freitagmorgen« (5.7.).

7. Juli 1985. Ich stehe um 5 Uhr auf und beginne die kleine Broschüre zu meiner Ehrenpromotion zu signieren. Ich weiß nicht, wieviele hundert Exemplare es sind, die ich an die verschicke, die da teilgenommen haben, die mir geschrieben haben und denen ich den Text zudenken möchte. Am Nachmittag Wimbledon. Boris Becker, der 17jährige, im Endspiel mit einem Gegner, dem 27jährigen, in Südafrika geborenen Amerikaner Kevin Curren; ich habe Curren in Ausschnitten gesehen, wie er McEnroe und Connors wirklich distanzierte. Erihat einen Aufschlag, dem niemand gewachsen sein kann. Das Spiel geht über drei Stunden und ich bekenne gerne, daß ich Dramatischeres, Erregenderes, Faszinierenderes kaum gesehen habe. Was ist denn dieses Aufregende und Bemerkenswerte? / Nach dem Match kommt Fellinger, wir spielen zur Beruhigung Schach. Ich kann nichts anderes mehr machen. Ich bin zu aufgeregt.

8. Juli 1985. Ernst Blochs 100. Geburtstag. Auf der Zugfahrt nach Tübingen lese ich Hans Mayers Erinnerungen an Bloch, die Rede von Dolf Sternberger in Ludwigsburg und Uedings FAZ-Artikel. / Mittagessen mit der Bloch-Familie. / Nachmittags an die Universität. / Am Abend, nach dem Vortrag von Fahrenbach, veranstaltete der Suhrkamp Verlag einen Empfang. Ein großes Büffet, dessen Reichhaltigkeit gelobt wird. Aber man sollte nie einen solchen Empfang ohne einen Fokus machen, ich weiß das, und doch kommt das immer wieder vor. Andererseits wollte ich mich mit der Stiftung eines Bloch-Lehrstuhls nicht in den Vordergrund schieben, Bloch sollte das Zentrum sein.

9. Juli 1985. Mit Hilde spaziere ich durch die bekannten Gassen und Orte (Hölderlin-Turm, Stift, Philosophisches Seminar, Buchhandlung Gastl) durch Tübingen. Besuch bei der Buchhandlung Gastl, Herr Fischmann ist zwar nicht da, aber Herr Stadelmann und eine ältere Gehilfin sind freundlich. / Frühstück mit Hans Mayer. / Stuttgart. Friederike Roth.

10. Juli 1985. Aus Madrid trifft nun endlich eine richtige Ausgabe meines Buches ein (man hatte auf dem Umschlag statt meinem Namen versehentlich den Namen Peter Suhrkamp genannt). Ich will dieses Buch noch einigen Freunden schicken, Autoren, Verlegern. Ich bin sehr glücklich über diese spanische Ausgabe und wie schön liest sich der Text in der klangvollen Sprache! / Ignacio Cardenal weist mich darauf hin, daß Jaime Salinas sehr gerne an der »Europäischen Bibliothek« weiterarbeiten würde. / Am Abend Treffen mit Peter Handke im Sonnenhof in Königstein.

Aus diesen exemplarischen zwölf Tagen lässt sich der »normale« Stundenplan rekonstruieren: Der Frühaufsteher begab sich während der Saison zur frühesten Öffnungszeit (6.30 Uhr) ins Freibad im Stadtteil Hausen (auf Reisen wurden Hotels unter anderem danach ausgewählt, ob sie über ein Schwimmbad verfügten, Sommerurlaube mussten ein ausführliches Schwimmen ermöglichen), fuhr dann zurück an seinen Schreibtisch in der Klettenbergstraße 35, wechselte kurz vor zehn an den in der Lindenstraße 29, wo der Verlagsalltag einsetzte, zu dem die in der Regel um 11.30 Uhr stattfindende Postkonferenz zählte. Auf ihr trugen die Leiter der einzelnen Abteilungen zur Entscheidung anstehende Probleme vor, diskutierte Siegfried Unseld Pläne, taktische Maßnahmen und strategische Ziele. Um 13.00 Uhr war Mittagessenszeit, meist in der Form von Arbeitsessen mit Autoren, Journalisten, Personen des öffentlichen Lebens. Nach einem kurzen Mittagsschlaf zu Hause fand sich das »Schlafgenie« wieder im Verlag ein, wo er bis gegen 18.00 Uhr arbeitete, dann standen die Abendverpflichtungen bevor.

Änderungen in den Tagesabläufen ergaben sich, wenn sich Siegfried Unseld, wie zwischen Anfang der siebziger und Anfang der neunziger Jahre regelmäßig, drei Wochen im Juli und zwei Wochen im Dezember an den Bodensee zur Fastenkur zurückzog. Diese Zeit der relativen Ungestörtheit nutzte er, um Erkundungen auf dem Hauptgebiet seiner theoretischen und historischen Neugierde zu betreiben: dem der Beziehung zwischen Autor und Verleger. So entstand während der achtzigerJahre das inzwischen den Ruf eines Standardwerks genießende Buch Goethe und seine Verleger.

Aus solch vielfältiger Aktivität erklärt sich, dass eine zum 75. Geburtstag vorgenommene Bestandsaufnahme der von Siegfried Unseld verfassten und herausgegebenen Bücher, von Vorträgen, Reden und Vorlesungen, von Beiträgen und Büchern und eigenen Übersetzungen 765 Einträge enthält (wobei der mehrfache Vortrag zum selben Thema an ganz unterschiedlichen Orten nicht gerechnet wurde). Aus solch vielfältiger Aktivität erklärt sich auch, dass die Bibliographie des Suhrkamp Verlags zum 1. Juli 2002 vermerkt, dass der Verlag bis zu diesem Zeitpunkt 12.302 Novitäten vorgelegt hat, an denen 16.572 Autoren, Herausgeber, Übersetzer und Illustratoren mitgewirkt haben.

Am 7. Januar 2002 konnte Siegfried Unseld das 50. Jahr seiner Arbeit im Suhrkamp Verlag begehen. Zu diesem Anlass erschien ein Privatdruck, dessen Inhalt er bestimmte und der für sein Selbstverständnis charakteristisch ist. Die Broschüre enthält den Nachruf auf Samuel Beckett (Das letzte Mal Beckett), die Darstellung seiner Freundschaft mit Uwe Johnson (Uwe Johnson, ›Für wenn ich tot bin‹) sowie ein Gespräch mit Ernst Bloch Über Tod, Unsterblichkeit und Fortdauer.

Zusätzlich zu dem Hinweis, wie wichtig Siegfried Unseld das Jahr 1959 war (in ihm entschied er sich für Johnson, Bloch und Beckett), hat hier Siegfried Unseld in einem Goethe-Zitat ein eigenes Credo niedergelegt: »Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.«

Das größte Unglück: »nicht mehr lieben, nicht mehr arbeiten zu können«

Auf die Frage, was er bei seinen Freunden am meisten schätze, nannte Siegfried Unseld die »Treue« (für ihn verkörpert in der Figur des Elefanten), am meisten verabscheute er Illoyalität. Und so hielt er den Autoren die Treue, war, wenn sie sich in seinen Augen illoyal verhielten, verletzt, doch bewegte die Rolle des Verlegers ihn immer wieder dazu, solche Verletzungen, die im Verlag, in der »Gemeinschaft der Einzelgänger«, unumgänglich sind, hintanzustellen.

An öffentlicher Anerkennung seines Tuns hat es nicht gemangelt: von der Hermann-Hesse-Gedenkmedaille 1967, der Goethe-Plakette über die Ehrendoktorwürde der Johann Wolfgang Goethe-Universität und die Honorarprofessur an der Universität Heidelberg, die Zuerkennung des ersten Europäischen Verlegerpreises und die Ehrenbürgerwürde der Stadt Frankfurt.

Seit seiner Zusammenarbeit mit Peter Suhrkamp war Siegfried Unseld bewusst, dass Kontinuität für das Weiterbestehen eines Verlags unabdingbar ist. Joachim Unseld absolvierte nach dem Abitur eine Lehre als Verlagsbuchhändler, studierte Literaturwissenschaft, arbeitete während des Studiums bei ausländischen Verlagen und trat 1983 nach seiner Promotion in den Verlag ein. Mit diesem Verlagseintritt war, wie Siegfried Unseld schrieb, »die Hoffnung auf die Sicherheit der Kontinuität« verbunden. Während der siebenjährigen Verlagsarbeit – zuletzt als gleichberechtigter Verleger – kam es zu einer immer größeren Entfremdung zwischen beiden, die 1990 in das Ausscheiden Joachim Unselds mündete. 1990 war auch das Jahr, in dem die Scheidung zwischen Hilde und Siegfried Unseld stattfand – das Ehepaar bewohnte bereits in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre getrennte Wohnungen.

Siegfried Unseld sah sich, im Alter von 66 Jahren, mit der Notwendigkeit konfrontiert, sein Lebenswerk über seinen Tod hinaus zu gestalten, und er verhielt sich so, als befolge er jene Goethesche Maxime, die als Fotokopie neben seinem Schreibtisch in der Klettenbergstraße stand: »Lieben belebt«. Ob er dieser Maxime bewusst oder unbewusst folgte, sei dahingestellt: Er heiratete am 28. August 1990 die Schriftstellerin Ulla Berkéwicz. Als Siegfried Unseld zehn Jahre später zur Feier des 50-jährigen Bestehens des Suhrkamp Verlags 800 Gäste im Frankfurter Schauspiel begrüßte, verzichtete er, mit zwei Ausnahmen, darauf, einzelne Anwesende zu nennen. Die eine Ausnahme war Helene Ritzerfeld, die seit dem 1. Juli 1950 im Suhrkamp Verlag gearbeitet hatte. Die zweite: »Ich habe meiner Frau Ulla Unseld-Berkéwicz zu danken, die in den letzten Jahren immer mehr zu einer wichtigen Mitdenkerin wurde.« Nachdem Siegfried Unseld 1998 wieder die Mehrheit an den Verlagen Suhrkamp und Insel erwerben konnte und diese in die Siegfried und Ulla Unseld Familienstiftung eingebracht hatte, bestimmte er für den Fall seines Todes Ulla Unseld-Berkéwicz als seine Nachfolgerin im Vorsitz der Stiftung und als Geschäftsführerin der Verlagsleitungs GmbH.

Raimund Fellinger, zuerst erschienen im Prospekt Siegfried Unseld. Der Verleger. Eine Ausstellung des Suhrkamp Verlags im Holzhausenschlößchen Frankfurt am Main 29. September – 19. Dezember 2004.