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Raimund Fellinger: Reiseberichte – Berichte – Chronik

Der langjährige Cheflektor der Verlage Suhrkamp und Insel, Raimund Fellinger, der im Jahr 1979 von Siegfried Unseld als Lektor eingestellt wurde, hat die Entstehung und Anlage von Unselds Verlagschronik in seiner Nachbemerkung zum Band »Chronik 1970« detailliert beschrieben.

Am 7. Oktober 1946 notierte Ernst G. S. Bauer, Gründer des Aegis Verlags Ulm, in sein »Betriebstagebuch«:

»Eintritt von Siegfried Unseld als Praktikant für Verlag und Schriftleitung [der Zeitschrift Pandora].«

22 Jahre alt war Unseld zu diesem Zeitpunkt. Er hatte 1946, nach der Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft, in seiner Geburtsstadt Ulm das Abitur abgelegt (ein »Abgangszeugnis« hatte er im August 1942 erhalten, bevor er im selben Jahr zur Kriegsmarine einberufen wurde) und dabei die Literatur – vermittelt durch seinen Lehrer Eugen Zeller an erster Stelle Hermann Hesse – für sich entdeckt. Da es ihm nicht sofort gelang, die Zulassung zum Studium an der Tübinger Universität zu erhalten, unterzeichnete er am 1. November 1946 einen »Ausbildungsvertrag«, in dem sich Ernst Bauer verpflichtet, »Herrn Siegfried Unseld in allen Gebieten des Verlags- und Schriftleitungswesens auszubilden«. Während der Ausbildung verfaßte er am 21. April 1947 seinen ersten Reisebericht: Er handelt von einem Besuch bei Ernst Bauer, der sich in Bad Ditzenbach nach einer Operation in Rekonvaleszenz aufhielt, und fixierte die Resultate der Besprechung über die Inhalte der anstehenden Pandora-Hefte.

Bei der Suche nach Beiträgern für die Zeitschrift kam Unseld in Kontakt mit Wilhelm Weischedel, Ordinarius der Philosophie, der ihm im Oktober 1947 den Studienbeginn und den Zuzug nach Tübingen ermöglichte. Der Abschluß seiner Ausbildung zum Buchhandelsgehilfen war ihm jedoch so wichtig, daß er die entsprechende Prüfung noch während des Studiums, am 27. November 1947, ablegte. Bereits zuvor, am 13. Juli 1947, hatte er Hans-Georg Siebeck, dem Inhaber des Tübinger Verlags J. C. B. Mohr, geschrieben:

»Für das Fortkommen und Weiterbildung meiner Verlagsarbeit ist es mir wichtig, gerade in das Schaffen anderer Verlage Einblick zu gewinnen, umsomehr, als der Aegis Verlag durch den Weggang von Herrn Ehrlich an Bedeutung und Qualität verlieren wird. So ergriff ich auch die Gelegenheit, die sich mir durch Vermittlung Herrn Ehrlichs bei Ihnen bot, mit beiden Händen. Da sich nun Ihr Verlag glücklicherweise in Tübingen befindet, ließ sich – so dachte ich mir – ein gleichzeitiges Studium damit verbinden. Das Primäre und in erster Linie wichtige ist mir jedoch die Arbeit in Ihrem Verlag. Ich habe mir nie gedacht, ein volles Studium mit Staatsexamen u. dgl. durchzuführen. Es ging mir hierbei lediglich darum, Lücken aufzufüllen, und mir die notwendigsten, für meinen Beruf wichtigsten allgemeinen Bildungsgüter zu verschaffen: einmal in der Weltliteratur eine umfassende Schau, in meinem Denken (hab‘ ich überhaupt schon eines?) eine Richtung vermittelt zu bekommen und mir die nötigsten theoretischen Kenntnisse zur Bewertung von Dichtung und Kunstwerk zu erwerben.«

Das Resultat der Anfrage: Unseld arbeitete in Herstellung und Werbung bei Mohr. Seine Behauptung, das Studium der deutschen Literatur sei eher nebensächlich, muß als eine taktische verstanden werden, denn Siegfried Unseld promovierte 1951 mit der Arbeit Hermann Hesses Anschauung vom Beruf des Dichters bei Friedrich Beißner.

Zu Hermann Hesse, mit dem er bereits zuvor Briefe gewechselt hatte, machte sich Unseld sogleich nach Ende der mündlichen Prüfung im August in die Schweiz auf, und da er ihn an seinem Wohnort in Montagnola nicht antraf, reiste er, von Bekannten instruiert, nach Bern weiter. Im nahe gelegenen Schloß Bremgarten redete er mit dem Dichter und gab ihm zu verstehen, er wolle in einem größeren Verlag arbeiten. Nur so ist zu erklären, daß Hesse an Peter Suhrkamp schrieb und auf den jungen Mann hinwies. Der seinerseits hatte im Oktober in einem handschriftlichen Brief an Suhrkamp gefragt, ob er eine Möglichkeit für eine Betätigung in dessen Verlag sehe. Beide Briefe und eine persönliche Begegnung in Frankfurt mündeten in einen Anstellungsvertrag. Unseld nahm am 7. Januar 1952 die Arbeit im Suhrkamp Verlag auf: zuständig für die »Arbeitsgebiete Vertrieb, Herstellung, Werbung und gelegentlich Lektorat«.

Betrachtet man die Ereignisse seit 1946 unter dieser Perspektive, könnte man Siegfried Unselds retrospektiver Erklärung in Sachen eigenen Lebens zustimmen, formuliert im Nachwort zu Hermann Hesses Die Nürnberger Reise, auf der Hesse Unselds Lehrer Zeller in Ulm aufsucht:

»Wenn das Leben eines Menschen richtig angelegt ist, so gibt es an seinem Anfang Zufälle, doch irgendeinmal ereignet sich eine Initialzündung, und von da an gibt es keine Zufälle mehr, sondern nur noch Kettenreaktionen.«

Spätestens mit dem Eintritt in den Suhrkamp Verlag kann von einem eigengesetzlichen Lauf der Dinge nicht mehr die Rede sein. Zunächst galt es für ihn, den Ansprüchen Peter Suhrkamps, eines gestrengen Lehrherrn, zu genügen. Eine Position im Lektorat zu erringen und zu behaupten erwies sich dabei als durchaus diffizil. Da arbeitete zunächst Friedrich Podszus, den Peter Suhrkamp noch aus Berliner Vorkriegszeiten kannte. In seinem Nachruf charakterisierte Unseld das Verhältnis zwischen Suhrkamp und dessen erstem Lektor: »Suhrkamp hatte ganz bestimmte Vorstellungen von Anspruch und Rang eines Autors […]. Podszus trat für die Experimente ein.« Und auch wenn Hermann Hesse 1946 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte und Peter Suhrkamp eng mit ihm befreundet war, so setzte der Verlag verstärkt auf die Emigranten der Weimarer Republik und die während des »Dritten Reichs« in Deutschland nicht rezipierten Autoren. Adorno und Benjamin erschienen zu Beginn der fünfziger Jahre im Suhrkamp Verlag, Truman Capote und Marcel Proust wurden übersetzt. Zugleich wandte der Verlag sich dem »jungen Autor« zu: Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser. Nach Podszus arbeitete als Lektor, neben dem zuweilen herangezogenen Walter Höllerer, Walter Maria Guggenheimer, der aus dem Exil Zurückgekehrte: Während dieser Uwe Johnsons Erstling Ingrid Babendererde für ein gelungenes Experiment hielt, entdeckte Unseld, seine Lektüre im »Dritten Reich« erinnernd, im Manuskript zuviel Bäume, Verherrlichung der Natur. Mit anderen Worten und salopp formuliert: Die intellektuellen Kollegen innerhalb und außerhalb des Verlags hielten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre Siegfried Unseld für nicht auf der Höhe der literarischen und theoretischen Avantgarde.

Wolf Jobst Siedler erinnert die Wirkung Siegfried Unselds auf Verlagsleute:

»– ein Fünfundzwanzigjähriger aus der schwäbischen Provinz, der sonderbarerweise Hesse zu seinem Leitstern gemacht hatte. […] Unseld redete [Ende der fünfziger Jahre] den ganzen Abend von einem Mann, den er kurzerhand zum wichtigsten Denker der Epoche erklärte – von Ernst Bloch, den er gerade für sich entdeckt hatte, und er war ein wenig irritiert, daß man Bloch in Berlin schon lange kannte […] Aber es war Unseld, der Ernst Bloch dann zu einer gesamtdeutschen Figur machte.«

In dieses Stereotyp der widerläufigen Denk- und Handlungsdisposition – in literarisch-theoretischen Angelegenheiten eher konservativ, in Sachen Durchsetzung neuer Autoren wie der unablässigen Planung von Aktionen und Buchreihen modernistisch ausgerichtet zu sein – wurde Unseld nach 1956 noch stärker gezwängt, als Podszus den Verlag verließ und Walter Boehlich 1957 dessen Nachfolge übernahm. Denn als Suhrkamp ihn mit Wirkung vom 1. Januar 1958 zum Gesellschafter des Suhrkamp Verlags machte (und ihm die dafür erforderlichen 10.000 DM persönlich lieh), schrieb er Boehlich, er möge, damit Unseld, der »junge Hund« (wie Suhrkamp ihn gegenüber Rudolf Alexander Schröder charakterisierte) sich nicht zu ungestüm von der bisherigen Programmlinie entferne, im Verlag mit und gegen Unseld agieren. Am 1. April 1959, nach dem Tod Peter Suhrkamps, wurde Siegfried Unseld alleinverantwortlicher, persönlich haftender Gesellschafter der Suhrkamp Verlag GmbH und Co. KG.

Suhrkamp hatte sich in seinem Urteil über Unseld nicht getäuscht. Dem Nachfolger war während der siebenjährigen Verlagsarbeit klargeworden, daß Suhrkamps Konzeption der Verlagsarbeit – anspruchsvolle in- und ausländische Literatur in einem überschaubaren Programm für die Elite – sich selbst kurzfristig weder konzeptuell noch materiell fortführen ließ. Er setzte deshalb auf Modernisierung, was bedeutete: Vergrößerung des Programms (1959 erschienen im Suhrkamp Verlag 35, 1961 51, und 1969 185 Bücher) und – notwendige Voraussetzung dafür – zuverlässige Finanziers. Er konnte schon nach kurzer Zeit die Kommanditisten Balthasar und Peter Reinhart, Teilhaber des Verlags seit 1951, die von Winterthur in der Schweiz ein internationales Handelsunternehmen lenkten, davon überzeugen, die Ausweitung der Produktion des Suhrkamp Verlags mit Darlehen zu unterstützen und bei der Ausdehnung der Aktivitäten auf andere Verlage als Finanziers zu agieren. Das war unumgänglich für den 1963 vollzogenen Kauf des Insel Verlags und den Kauf des Lutzeyer Verlags (später Nomos) im selben Jahr. Es bedeutete zugleich, daß gewichtige Investitionsentscheidungen nicht gegen den Willen der Kommanditisten getroffen werden konnten.

Ein zentrales Mittel zur Sicherstellung funktionierender Beziehungen bei der Expansion des Verlags zwischen Autoren, Übersetzern, Herausgebern, Buchhändlern, Kritikern, in- und ausländischen Verlagen, Agenturen auf der einen, den Verlagsmitarbeitern auf der anderen Seite bildeten bei den stark zunehmenden Aktivitäten seit 1959 die Reiseberichte Siegfried Unselds. Der erste erhaltene Reisebericht des Verlegers gilt einer Reise nach [Berlin] zwischen dem [10. und 13.] April 1959: [Unseld besuchte unter anderem das Brecht-Archiv, Elisabeth Hauptmann, Helene Weigel sowie Margarete Franck, die die Westberliner Dependance des Suhrkamp Verlags bis zu ihrer Schließung Ende 1959 leitete.]

Die Reiseberichte hielten die Resultate der Gespräche von Siegfried Unseld außerhalb Frankfurts fest. Sie wurden meistens relativ kurz nach der Rückkehr am eigenen Schreibtisch diktiert, von einer Sekretärin abgeschrieben und zirkulierten im Verlag unter Lektoren und Abteilungsleitern, die teilweise im Reisebericht direkt angesprochen werden. Beim Diktat stützte sich Unseld auf einen eigenen Terminplan im Taschenkalenderformat und handschriftliche Notizen in Stichwortform auf seinen Gesprächsunterlagen. Die Unterlagen haben sich nicht erhalten.

Die Reiseberichte vereinten mehrere Funktionen:

  • Sie dokumentieren Entscheidungen; da die Einbeziehung der Autoren bei kleineren und größeren Anfragen Dritter der Pflege guter Beziehungen diente, zuweilen auch vertraglich vereinbart war, hielt Unseld sie schriftlich im Reisebericht fest, so daß die Abteilungen entsprechend agieren konnten.
  • Sie beschreiben die Lebens- und Arbeitssituation von Autoren, Übersetzern und Herausgebern, die Situation ausländischer Verlage und Verleger; damit informierte Unseld vor allem das Lektorat über neue (entstehende oder fertiggestellte) Bücher, aufgegebene oder beauftragte Unternehmen.
  • Sie berichten von Theateraufführungen, Lesungen und Vorträgen in Buchhandlungen und anderen öffentlichen Veranstaltungen; hier schildert Unseld seinen Eindruck von mit dem Namen Suhrkamp/Insel assoziierten Auftritten.
  • Sie stellen die Aktivitäten und Äußerungen des Verlegers zu allgemeinen wie besonderen Themen dar; hier vermittelt Unseld den Verlagsmitarbeitern seine Haltung zu Entwicklungen einzelner Buchhandlungen, der gesamten Buchbranche, zu anderen Verlagen, zu den kulturellen Institutionen.
  • Sie geben Urteile über den Verleger, die Verlagsarbeit und die Verlagsmitarbeiter wieder; hier vermittelte Unseld den Mitarbeitern die Wirkung ihrer Arbeit auf das Umfeld.

Damit ist offensichtlich: Die Reiseberichte erheben nicht den Anspruch auf die ausschließliche Wahrheit. Sie richten sich an einen Teil der Verlagsöffentlichkeit. Sie filtern das Geschehen je nach der Haltung von Siegfried Unseld und dessen Absichten und Strategien innerhalb und außerhalb des Hauses. Ein Zeichen dafür, wie stark sich Unseld des interpretatorischen Umgangs mit dem von Dritten Berichteten bewußt war, zeigt deren grammatikalisch unkorrekte Zitierung im Konjunktiv II.

Deshalb sollten weder sie selbst noch ihre Inhalte nach außen dringen. Unseld schickte allerdings einen Reisebericht über seinen Aufenthalt in New York zwischen dem 26. April und dem 5. Mai 1970 an Uwe Johnson und gestand ihm, kurzzeitig, Kopien weiterer Reiseberichte zu. Unseld konnte sie ihm nicht verweigern, da er auch Max Frisch zwischen 1969 und 1973 drei Reiseberichte in Auszügen hat zukommen lassen. Johnson bestätigte am 1. Juli 1970 brieflich:

»[…] ich möchte dir noch einmal versichern, dass ich keineswegs versuche, deine Reiseberichte gegen den Strich ihrer Funktion zu benutzen, also sie zu lesen als epische Prosa; wenngleich ich hinzufügen möchte, dass mir deine Ausdrucksweise bündig und anschaulich genug vorkommt, nämlich mit Eigenschaften versehen, die den Bereich der Kommunikation nicht verlassen, sondern ihn besser organisieren.«

Ab 1970 übernehmen die Reiseberichte eine zusätzliche Aufgabe. Sie sind die vermittelte Folge zweier Entscheidungen Siegfried Unselds während der Ausfächerung des Programms. Im Mai 1963 wurden die ersten 20 Bände der Taschenbuchreihe edition suhrkamp in die Buchhandlungen ausgeliefert. Im Juni 1965 erschien im Suhrkamp Verlag Heft 1 des von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Kursbuchs.

Jürgen Habermas urteilte über die ersten 1000 Bände der edition suhrkamp, sie repräsentiere

»mit einer gewissen Überprägnanz einen Zug der intellektuellen Entwicklung, von dem man sagen kann, daß er im Nachkriegsdeutschland dominiert hat: ich meine den dezidierten Anschluß an Aufklärung, bürgerlich radikales Denken […]. Wenn an der Parole, der Geist stehe links, je etwas dran gewesen ist, ich meine in Deutschland, dann während der Jahre, als trotz der massiven gesellschaftlichen Restauration die Erinnerung an den Nazismus und an die Traditionen, mit denen er gebrochen hatte, wachgehalten wurden – von einer intellektuellen Linken […].«

Diese Diagnose gilt nicht minder für die Hefte des Kursbuchs in den sechziger Jahren. Für Siegfried Unseld barg das Kursbuch die spezifische Gefahr, die Grundlage des Verlags zu zerstören: Indem ohne Ansehen von Verlagszugehörigkeit Autoren in einer Publikation des Suhrkamp Verlags kritisiert wurden, drohte die Gemeinschaft der Autoren, auf der Unselds Verlagskonzept beruhte, sich in gegenseitigen Vorwürfen aufzulösen. Auch wenn KD Wolff überpointiert, wenn er sich fragt, ob er vor 1968 überhaupt Bücher gelesen habe, »die nicht in der ›edition‹ erschienen waren?« – der Suhrkamp Verlag galt bei Autoren, Verlagen und Kritikern und in der Öffentlichkeit als »linker« Verlag.

Die Veröffentlichungen der edition suhrkamp und die Beiträge im Kursbuch ließen Unseld die Widersprüche zwischen dem von ihm früh zitierten Oxymoron des Brechtschen Galilei über die »geheiligte Ware Buch« an der eigenen Person erfahren. Zunächst geriet er während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in die Auseinandersetzungen innerhalb der Standesorganisation von Buchhändlern, Zwischenbuchhandel und Verlagen, des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Die Vermittlungsbemühungen zwischen der konservativen Fraktion und der Fraktion der Modernisierer sowie linken Verlegern trugen ihm die Ablehnung beider Lager ein.

Die Situation kulminierte zum ersten Mal während der Frankfurter Buchmesse 1967. Die in der Öffentlichkeit wie im Börsenverein widersprüchlich dargestellten und bewerteten Ereignisse brachten ihn dazu, nach eigenem Diktat und anschließend schriftlich fixiertem Bericht das Geschehen für sich und für andere zu dokumentieren. Und so lautet der einleitende Absatz des Berichts über die Buchmesse 1967, beginnend mit einer an Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus anknüpfenden Formulierung:

»Worüber man sprechen kann, darüber soll man berichten. Ich beginne hier eine neue Form der Aufschreibung, der Aufsagung. Ich gebe Berichte von jener Welt- und Erfahrungsbreite, die mir zustößt. Ich berichte Dinge, die mir begegnen, Vorgänge, denen ich mich stellen muß. Dabei bin ich eingedenk, daß ein Verleger im Grunde genommen immer nur an den Büchern beurteilt werden soll, die er macht, nicht an den Worten, die er über diese Bücher oder über andere Gegenstände verliert. Ich will beginnen mit einem Bericht über die diesjährige Frankfurter Buchmesse.«

Den nächsten Bericht diktiert Siegfried Unseld jedoch erst im Oktober 1968. Der Gegensatz zwischen der Ware Buch und der in Büchern des Suhrkamp Verlags propagierten Analyse und Kritik von Kapitalismus und Warenform spitzte sich für Unseld anläßlich der Buchmesse 1968, der sogenannten Polizeimesse, zu, da er nun auch innerhalb des Verlags ausgefochten wurde. Die zehn Lektoren des Suhrkamp und des Insel Verlags warfen Unseld vor, ihm sei der kapitalismuskritische Inhalt der von ihm verlegten Bücher gleichgültig, ihm ginge es gut kapitalistisch, das habe sein Verhalten während der Buchmesse gezeigt, bloß um den Profit. Um diese Diskrepanz abzuschaffen, müsse der von der Mehrzahl der Bücher der Verlage befürwortete antikapitalistische und antihierarchische Geist sich bei beiden Verlagen materialisieren in einer demokratischen Entscheidungsfindung über die Annahme und Ablehnung von Büchern und die Sozialisierung der Besitzverhältnisse.

Siegfried Unseld überstand den sogenannten »Aufstand der Lektoren«, ohne deren Forderungen zu erfüllen. Dabei nutzte er zum einen die ebenfalls zum Teil widersprüchlichen Interessen von Lektoren und Autoren, indem er zum ersten Gespräch mit den Lektoren auch Autoren einlud sowie Mitarbeiter aus anderen Verlagsabteilungen, deren Beziehungen zum Lektorat nicht konfliktfrei sein können. Die Autoren konnten sich nicht auf ein Verlagsmodell einlassen, in dem zehn Personen über die Publikation ihrer Bücher befanden. Zum zweiten schlug Unseld, um die Einheitsfront aufzubrechen, Walter Boehlich, Günther Busch und Karl Markus Michel die Gründung eines von ihm privat finanzierten »sozialistischen« Verlags vor – vermutlich im Bewußtsein, daß keiner der drei Angesprochen Voraussetzungen oder Neigungen zur Leitung einer Verlagskooperative besaß. Die drei lehnten, wie voraussehbar, ab.

Doch die Einigung auf eine wöchentlich tagende Lektoratsversammlung und die Anerkennung Siegfried Unselds als alleinverantwortlicher Verleger bedeuteten nicht das Ende der Revolte. Nicht nur Walter Boehlich, Peter Urban und Urs Widmer verließen den Verlag (1970 folgten Anneliese Botond, später Klaus Reichert und Karl Markus Michel). Karlheinz Braun schied 1969 ebenfalls aus und gründete zum 1. April desselben Jahres in Frankfurt den Verlag der Autoren, einen Theaterverlag auf kooperativer Basis in der Rechtsform einer GmbH und Co. KG. Damit geriet der Suhrkamp Theaterverlag in Bedrängnis, den Braun seit 1959 geleitet hatte, da Suhrkamp-Autoren zu den Gründungsmitgliedern des neuen Verlags zählten und sie möglicherweise auch mit ihren anderen Büchern den Verlag wechseln wollten. Um dies zu verhindern, um in Gesprächen mit diesen und anderen Autoren die Ereignisse und Argumente rekapitulieren zu können, ließ er den laut Vermerk am Ende der Chronik eines Konflikts im November 1968 diktierten Bericht im April 1969 verschriftlichen.

Diese Entwicklung wird Unseld von der Notwendigkeit überzeugt haben, die tagtäglichen Ereignisse, die Arbeitsabläufe, Diskussionen, Entscheidungen im und um die Verlage Suhrkamp und Insel schriftlich zu dokumentieren. Wie sein Briefwechsel mit den Autoren belegt, war er schon früh davon überzeugt, nur schriftlich Fixiertes garantiere Wirklichkeit, und er war sich sicher, spätere Forscher und andere Interessierte würden diese Korrespondenz nachlesen. Das 1970 begonnene Unternehmen Chronik strebt ganz unbescheiden zwei Ziele an. Es will, wie das vorangestellte Goethesche Motto besagt, das Handeln des Verlags detailliert widerspiegeln, um dessen Gegenwart genauestens abzubilden. Und es will zugleich die Geschichtsschreibung über Bücher der Verlage und deren Autoren, die öffentlichen Vermittler, nicht zuletzt das Urteil über die Leistungen des Verlegers, initiieren, ihr ein Fundament bieten, um nicht zu sagen: es zu beeinflussen.

In der Chronik versammelte Unseld verschiedene Textformen. Deren Zusammenstellung hatte mehreren Aufgaben zu genügen: Sie sollte die wichtigsten Ereignisse innerhalb des Verlags (aus der Perspektive Siegfried Unselds) beschreiben, sie sollte als Nachschlagewerk fungieren, wenn die Vorgeschichte bestimmter Abläufe nicht mehr präsent war, und sie sollte als Materialbasis einer später von ihm zu verfassenden Autobiographie und Geschichte des Suhrkamp Verlags dienen.

Der Titel bot sich nach der Chronik eines Konflikts geradezu an: Chronik. Die Chronik wurde diktiert und von einer Sekretärin, in der Hauptsache von Burgel Zeeh, niedergeschrieben. Ihre Anlage ist zweigeteilt. Es existiert ein Grundtext, der die Vorgänge der einzelnen (wenn auch nicht aller) Tage festhält.

Der zweite, auch in der eigenen Ablage getrennt aufbewahrte Teil der Chronik läßt sich unter der Überschrift Materialien zusammenfassen. Er besteht aus Briefen von und an Unseld, aus von ihm gesammelten Rezensionen zu Büchern des eigenen wie anderer Verlage, Programmheften, Artikeln zur kulturellen und politischen Situation usw. Ferner und noch entscheidender sind hier zu nennen die Notizen, Sondernotizen und Reiseberichte. Da der Chronikschreiber noch nicht wie in späteren Jahren sich zu einer festen inhaltlichen und zeitlichen Routine im Diktat diszipliniert hat, übernehmen für manche Tage die Reiseberichte die Funktion als Einträge, [und an manchen Tagen überschneiden sich] Tageseintragungen und Reiseberichte teilweise inhaltlich. [In den edierten Bänden Chronik 1970 und Chronik 1971 sind Reiseberichte wie auch Notizen und Sondernotizen integriert in den Chronik Text wiedergegeben. Auf der Webseite www.siegfried-unseld-chronik.de stehen diese Dokumente gleichwertig neben dem Chronik Text. In die Bände der Edition ist außerdem eine kleine Auswahl aller anderen Materialien über Anmerkungen oder durch Abbildungen eingegangen.]

Im Laufe der Jahre verändert sich die Chronik in Umfang und Form: Zum einen werden die Tagesnotate ausführlicher, beziehen auch das Privatleben des Verlegers ein ebenso wie seine Haltung zu kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Ereignissen. Zum anderen entfaltet Unseld die Gattung Reiseberichte zu einem komplexen Textsystem. Auf zuweilen 30 und mehr Seiten werden Land und Leute, politische Situation und Tendenzen, Verlage und Autoren, Übersetzer detailliert beschrieben. Unseld führte die Chronik bis [ins Frühjahr] 2002. Das Resultat sind 24 Leitzordner und 30 Archivkästen. Sie widerspiegeln die Arbeit des Suhrkamp und des Insel Verlags in allen Momenten: Entscheidungen und Fehlentscheidungen, den Umgang mit Autoren, mit der Presse, das Zusammenwirken der Abteilungen und das öffentliche Auftreten. Wer wissen will, wie ein, wie der Suhrkamp und Insel Verlag unter der Leitung des Verlegers Siegfried Unseld arbeitete, wer verfolgen will, wie beide Verlage sich für ihre Programmlinie und ihre Bücher entschieden haben, muß diese subjektive Chronik eines objektiven Erfolgs lesen.

Raimund Fellinger, Nachbemerkung. Reiseberichte – Berichte – Chronik, in: Siegfried Unseld, Chronik 1970, herausgegeben von Ulrike Anders, Raimund Fellinger, Katharina Karduck, Claus Kröger, Henning Marmulla und Wolfgang Schopf. Berlin 2010: Suhrkamp Verlag, S. 382-392. 2024 überarbeitet von Katharina Karduck.